In Unternehmen: Autismus als berufliche Qualifikation
Ärzte Zeitung, 22.01.2016

In Unternehmen

Autismus als berufliche Qualifikation

Schwache soziale Kompetenz - doch eine starke Fähigkeit zur Analyse. Kein Teamgeist - aber systematisches Denken. Menschen mit Autismus-Störungen können über bedeutende Stärken verfügen. Viele Unternehmen haben das längst erkannt.

Von Pete Smith

Autismus als Qualifikation

Menschen mit dem Asperger-Syndrom können soziale Signale nur schwer einschätzen - sind oft aber hoch intelligent.

© nt / fotolia.com

NEU-ISENBURG. "Es scheint", schrieb der österreichische Pädiater Hans Asperger 1968, "als wäre für gewisse wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuss Autismus geradezu notwendig."

Zum Beleg dieser waghalsigen These ließen sich viele Genies anführen, die erwiesenermaßen oder mutmaßlich Autisten waren: Einstein, Darwin, Michelangelo, Mozart, da Vinci oder Beethoven.

Dennoch wurden Autisten über Jahrhunderte weniger an ihren Stärken denn an ihren Schwächen gemessen. Das scheint sich seit einigen Jahren zu ändern. Vor allem die IT-Branche hat erkannt, wie sich das kreative und intellektuelle Potenzial von Autisten nutzen lässt - zum Vorteil aller.

Als das Software-Unternehmen SAP vor zwei Jahren ankündigte, bis 2020 ein Prozent seiner weltweit 75.000 Stellen mit Autisten besetzen zu wollen, fand die Nachricht weltweit Widerhall.

Zu dem Zweck hat SAP das Programm "Autism at Work" entwickelt, das in Deutschland, Tschechien, Irland, Indien, Brasilien, Kanada und in den USA erprobt wird.

Autisten als Software-Programmierer

Bis heute wurden 70 Mitarbeiter eingestellt, die das Asperger-Syndrom oder eine andere Variante aus dem Autismusspektrum haben. Eingesetzt werden sie vor allem als Software-Tester, Programmierer und im Bereich der Datenqualitätssicherung.

Die vorläufige Bilanz von "Autism at Work": eine höhere Produktqualität und Produktivität sowie eine deutliche Verbesserung der Arbeitsatmosphäre, der Kommunikation und des Teamgeists.

Unterstützt wird SAP von der dänischen Firma Specialisterne - zu deutsch "die Spezialisten" -, die sich zum Ziel gesetzt hat, eine Million Autisten in die Arbeitswelt zu integrieren.

Inzwischen kooperiert Specialisterne mit Kunden in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Polen, Island, Norwegen, Irland, Großbritannien und den USA. Gegründet wurde das Unternehmen 2004 von Thorkil Sonne, selbst Vater eines Autisten.

Die an SAP vermittelten Consultants sind zunächst bei Specialisterne beschäftigt und werden dort über mehrere Monate auf ihre späteren Aufgaben vorbereitet. Mittelfristig erhalten sie dann von SAP einen Anstellungsvertrag: unbefristet und mit marktüblichem Gehalt, einige in Teilzeit.

Für ihren Einsatz in IT-Unternehmen bringen Autisten einige herausragende Eigenschaften mit: Sie sind detailgenau und extrem sorgfältig, tolerieren keine Fehler, können sich lange auf eine Aufgabe konzentrieren, verfügen über ein hohes logisches und analytisches Denkvermögen, bleiben auch bei sich wiederholenden Vorgängen beharrlich, analysieren größte Datenmengen, erkennen darin zuverlässig Muster, also Regelmäßigkeiten, Wiederholungen und Gesetzmäßigkeiten oder auch Abweichungen von der Norm, und können Prozesse rasch optimieren.

Viele Autisten haben zudem ein ausgeprägtes Interesse an Informatik, Mathematik, Physik und Technik. "Autisten hinterfragen Aufgaben so lange, bis alles wirklich klar ist", sagt Stefanie Nennstiel, Leiterin der "Autism at Work"-Initiative bei SAP. "Diese Eigenschaften kommen dem gesamten Team zugute."

Probleme auf dem Arbeitsmarkt

Trotz ihrer enormen Fähigkeiten haben Autisten in der Regel große Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Die überwiegende Zahl von ihnen ist arbeitslos oder frühverrentet, viele in Ausbildung oder Berufsbildungsmaßnahmen, nur etwa 20 Prozent sind in einem vertraglich gesicherten Beschäftigungsverhältnis.

Die Gründe dafür liegen vor allem in ihrem Sozialverhalten. Autisten sind in der Regel Einzelgänger, können sich schlecht auf Menschen einlassen, wirken auf andere daher oft abweisend, missachten soziale Regeln und unausgesprochene Erwartungen, können schwer zwischen den Zeilen lesen und sind im Alltag häufig auf Unterstützung angewiesen.

"Wir wollen helfen, dass Autisten aus ihrer Isolation herauskommen", sagt Dirk Müller-Remus, Initiator des 2012 in Berlin gegründeten Start-ups Auticon, das als erstes Unternehmen in Deutschland ausschließlich Autisten als IT-Consultants beschäftigt.

Eigene Betroffenheit als Startschuss

Die Idee dazu entwickelte Müller-Remus aus persönlicher Betroffenheit. Wie Specialisterne-Gründer Thorkil Sonne ist auch er Vater eines Autisten.

Im November 2011 kündigte er seinen Vorstandsposten in einem Medizintechnik-Unternehmen und gründete wenige Monate später mit Unterstützung der gemeinnützigen Social Impact GmbH in Berlin die Firma Auticon.

Sein Ziel war von Anfang an, Autisten einen Arbeitsplatz zu bieten, an dem sie ihre Stärken ausbilden können, vor allem ihr systematisches Denken und ihre kreative Intelligenz.

Dabei haben Müller-Remus und sein Team jedoch nicht nur die Integration von Menschen mit vermeintlichen Behinderungen im Blick, sondern verfolgen auch einen hohen Leistungsanspruch. Tatsächlich sind die Anforderungen an IT-Consultants von Auticon hoch: Nur jeder zehnte Interessent schließt das Bewerbungsverfahren erfolgreich ab.

Bei Auticon werden den autistischen IT-Beratern und deren Kunden Job Coaches zur Seite gestellt, die im Hintergrund praktische Probleme lösen und Mitarbeitern jener Firmen, in denen die Consultants eingesetzt werden, deren spezielle Verhaltensweisen erläutern.

So benötigen Autisten beispielsweise Routinen, bekannte Gesichter und sind häufig geräuschempfindlich. Großraumbüros empfinden sie als unerträglich, Aufgaben muss man ihnen präzise erklären. Wenn sie ihre Bürotasse in die Spülmaschine stellen sollen, reicht es nicht zu sagen "Wir lassen hier nichts stehen."

Auf all das müssen sich die Kunden einstellen. "Die Job Coaches finden in jeder Situation die optimale Lösung", erklärt Bernd Günter, Hamburger Niederlassungsleiter der Auticon GmbH. "Dabei gilt bei uns immer die Devise: So viel Begleitung wie nötig, so wenig wie möglich. Es geht um professionelles Coaching, nicht um Händchen-Halten."

50 große Firmen sind dabei

Anfangs musste Auticon in den Unternehmen viel Überzeugungsarbeit leisten, um die eigene Vision zu vermitteln. "Die CEOs hatten vor allem das Bild des ‚Rain Man‘ im Kopf, wenn es um Autisten ging", erinnert sich Auticon-Gründer und -Geschäftsführer Dirk Müller-Remus.

"Das hat sich inzwischen geändert. Heute ist unser Ansatz in der IT-Community bekannt und anerkannt." Tatsächlich setzen inzwischen mehr als 50 große Unternehmen auf die speziellen Leistungen der Auticon-Berater, darunter Siemens, Vodafone, Infineon, die Allianz, Telekom, Postbank und die HypoVereinsbank.

Von Berlin aus hat Auticon weitere Niederlassungen in Hamburg, München, Frankfurt am Main gegründet. In diesem Jahr sollen Zweigstellen in London und Paris dazu kommen.

Deutschlandweit beschäftigt Auticon zurzeit rund 70 festangestellte Mitarbeiter, von denen etwa zwei Drittel Menschen im Autismus-Spektrum sind. Die Belegschaft erwirtschaftet 90 Prozent der finanziellen Mittel durch das eigene Tagesgeschäft, nur zehn Prozent sind Fördermittel.

Und das Konzept überzeugt nicht nur viele Großunternehmen, sondern hat auch schon etliche Preise gewonnen: den KfW Gründerchampion Award, den IT-Innovation Award, den BITKOM Innovators‘ Pitch, den Xing New Work Award und als Krönung 2015 den Sonderpreis des Deutschen Gründerpreises. Firmengründer Müller-Remus: "Das war der Höhepunkt meines beruflichen Lebens."

Lesen Sie dazu auch:
Ärztin mit Asperger: "Ich war abseits, fühlte mich einsam, das tat weh."

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