Gesundheit

Hirnforschung

09.02.14

Autisten können auf neue Wirkstoffe hoffen

Autisten nehmen das Leben auf eigene Weise wahr. Experimente mit Mäusen machen nun Hoffnung auf eine Heilung. Dabei spielen seit langem bekannte Medikamente und Botenstoffe eine entscheidende Rolle.

Von Silvia von der Weiden

Innerlich abgeschottet, überängstlich, oft sprachlos, die Blicke abgewandt von ihren Mitmenschen und nicht selten mit genialischen Einzelfähigkeiten: Autisten leben in ihrer eigenen Welt. Manche Betroffene haben noch nie in ihrem Leben ein Wort mit ihren Familienangehörigen gewechselt. Alltägliche Verrichtungen fallen ihnen häufig so schwer, dass sie in einem Heim betreut werden müssen.

Einige Autisten fallen durch außergewöhnliche Talente auf, die alle etwas mit einer geradezu unheimlich anmutenden Merkfähigkeit zu tun haben. Manche kennen, ähnlich wie im Film, ganze Telefonbücher auswendig. Andere verblüffen mit dem Wissen eines wandelnden Lexikons. Wieder andere haben ein geradezu fotografisches Gedächtnis.

So zeichnet der britische Autist und Künstler Stephen Wiltshire originalgetreue Stadtansichten nach einem kurzen Hubschrauberrundflug aus dem Gedächtnis. Seine Zeichnungen sind so präzise, dass sie ihm den Spitznamen "lebende Kamera" einbrachten.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet Autismus zu den tiefgreifenden neurologischen Entwicklungsstörungen. Nach Expertenschätzungen tritt Autismus, je nach ausgeprägter Form, mit einer Häufigkeit von eins zu 100 bis eins zu 1000 in der Bevölkerung auf. Studien an eineiigen Zwillingen weisen darauf hin, dass das Leiden vererbbar ist. Inzwischen sind mehrere genetische Veranlagungen bekannt, die mit der Erkrankung in Zusammenhang stehen. Ursächlich behandelbar ist Autismus bislang nicht.

Das könnte sich bald ändern, möglicherweise mithilfe eines seit Langem bekannten Medikaments: Bumetanid. Den Wirkstoff verschreiben Ärzte eigentlich als Entwässerungsmittel bei Herz- und Nierenleiden. Im Tiermodell aber unterbindet es fehlgesteuerte soziale Verhaltensweisen, die denen beim menschlichen Autismus ähneln. Das berichten Roman Tyzio, Yehezkel Ben-Ari und Kollegen vom Institut de Neurobiologie de la Méditerranée (Inmed) in Marseille im Fachmagazin "Science".

Wirkstoff hilft auch Kindern

Die Forscher haben das Mittel trächtigen Mäusen und Ratten injiziert, die aufgrund künstlich gesetzter genetischer Defekte autistische Symptome ausprägen und diese weitervererben. Die Tiere fallen durch Überängstlichkeit auf und meiden den sozialen Kontakt mit Artgenossen. Der Eingriff bewirkte, dass der Nachwuchs dauerhaft vor solchen sozialen Auffälligkeiten geschützt war. Keines der im Mutterleib mit dem Medikament in Berührung gekommenen Jungtiere erkrankte hernach an Autismus. "Aus ethischen Gründen ist es nicht möglich, das Mittel wie im Experiment beim Menschen einzusetzen", so die Forscher. Doch deutet sich möglicherweise ein Ausweg an.

Bereits Ende 2012 hatten Yehezkel Ben-Ari und Kollegen im Fachblatt "Translational Psychiatry" einen Artikel veröffentlicht, in dem sie über die Ergebnisse einer klinischen Studie mit autistischen Kindern berichteten, die mit Bumetanid behandelt worden waren.

Dabei hatte sich gezeigt, dass das Mittel die Symptome der neurologischen Störung so weit abmildern konnte, dass die behandelten Kinder besser am sozialen Leben teilnahmen. Zurückzuführen sei das auf die Fähigkeit des Medikaments, das Gleichgewicht der Nervenaktivität im Gehirn positiv zu beeinflussen, glauben die Wissenschaftler.

In die Studie eingeschlossen waren insgesamt 60 Kinder im Alter zwischen drei und elf Jahren, die alle an einer bestimmten Form von Autismus litten. Per Zufallslos wurden die Kinder in zwei gleich große Gruppen aufgeteilt. Die eine erhielt für drei Monate täglich ein Milligramm Bumetanid. Die andere Gruppe erhielt ein gleich aussehendes Scheinmedikament. Der Ansatz stellt sicher, dass die mit dem Medikament erzielten Wirkungen vergleichbar sind und nicht einer subjektiven Wertung unterliegen.

Kinder werden "präsenter"

In der Gruppe der Kinder, die das Medikament erhielten, kam es zu einer Verbesserung der Symptome um fast zehn Prozent. Bewertet wurde dies auf einer international gebräuchlichen Skala für die Ausprägung von Autismus. Die betroffenen Kinder zeigten sich weniger zurückgezogen und waren offener für die Kommunikation. "Auch wenn wir noch keine vollständige Heilung erzielen konnten, so hat das Mittel doch bei den meisten Kindern den Schweregrad der autistischen Störungen reduziert. Laut den Eltern seien ihre Kinder nun mehr 'präsent'", sagt Forschungsleiter Yehezkel Ben-Ari.

Im Zentrum der Untersuchungen steht der Nervenbotenstoff GABA. Dieser wirkt normalerweise beruhigend auf überaktive Neurone, indem er an besondere Erkennungsstellen an den Nervenzellen andockt. Der im Gehirn weit verbreitete Botenstoff sorgt so für ein Gleichgewicht zwischen Erregung und Dämpfung der Nervensignale.

Die Forscher vermuten, dass der zentrale Mechanismus bei Autismus-Patienten gestört ist, sodass es zu einem Übergewicht erregender Nervenimpulse kommt. Auf die Spur führten sie die Ergebnisse der Gruppe um Eric Lemonnier vom Centre de Resssources autisme de Bretagne in Brest. Dieser Wissenschaftler hatte die paradoxe Wirkung von Valium bei autistischen Kindern untersucht. Das Schlafmittel zeigte bei den Patienten keinen beruhigenden Effekt. Im Gegenteil – es wirkte bei ihnen wie ein Aufputschmittel.

Gehirn wird übererregt

Die Ursache ist eine Störung des GABA-Rezeptors auf den Nervenzellen im Gehirn. Diese Störung führt dazu, dass die Konzentration von Chlorid, ein Salzbestandteil in den Nervenzellen, so stark ansteigt, dass der Rezeptor selbst nicht mehr arbeiten kann. Das Gehirn wird von einer Flut erregender Nervensignale überschwemmt.

Die Inmed-Forscher hatten die Idee, dass ein Mittel, welches den Salzbestandteil aus dem Nervensystem ausschwemmt, die krankhafte Überregung in den Nervenzellen dämpfen und so die Autismus-Symptome zumindest mildern kann. Wie die aktuellen Studienergebnisse zeigen, ist der Mechanismus bereits bei der Entwicklung des Fötus im Mutterleib wirksam, sodass sich im Tierversuch die Ausprägung der neurologischen Störung vollständig unterbinden ließ.

Dabei spielt auch das vom weiblichen Organismus während der Schwangerschaft in großen Mengen ausgeschüttete Hormon Oxytocin eine wichtige Rolle, wie die Inmed-Forscher nun bestätigt haben. Seit Längerem ist bekannt, dass Menschen, die an Autismus leiden, zu wenig Oxytocin bilden. Der auch als "Kuschelhormon" bekannte Faktor sorgt für die intensive Bindung und fürsorgliche Zuwendung der Mutter, ist aber zugleich ein Nervenbotenstoff.

Bindungshormon und Schalter im Hirn

Im Gehirn des sich entwickelnden Nachwuchses wirkt dieser wie ein Schalter, der die Balance zwischen erregenden und hemmenden Nervenimpulsen reguliert. "Im Falle von Autismus wird dieser Schalter aber nicht ausgeprägt", stellen die Inmed-Forscher fest.

Den Zusammenhang hatten vor wenigen Wochen Wissenschaftler am Yale Child Study Center in New Haven, Connecticut, in einer klinischen Studie an Kindern und Jugendlichen mit Autismus belegt. Mittels eines Oxytocin-Nasensprays wurde die Aktivität in jenen Teilen des Gehirns der Patienten verbessert, die für die Verarbeitung sozialer Informationen zuständig sind. Noch sind nicht alle Wirkungen des Hormons und Nervenbotenstoffes erforscht.

Weitergehende Untersuchungen seien nötig, um mögliche Zusammenhänge zwischen Komplikationen in der Schwangerschaft, Kaiserschnittgeburten und den in den vergangenen Jahren steigenden Autismus-Diagnosen zu erhellen, so die Inmed-Forscher. Doch auch dank der Mäusestudien verstehen die Wissenschaftler die Ursachen für die Entwicklungsstörung. Das lässt darauf hoffen, dass in absehbarer Zeit auch ein Medikament gegen Autismus gefunden wird.